Was die Chronik dezent mit „den Aufgaben seines Berufes nicht mehr gewachsen“ umschreibt war zur damaligen Zeit zwar genauso wie heute als "Sucht" und damit die Aufgabe des persönlichen Willens und persönlicher geistiger Eigenständigkeit geächtet, hatte aber nicht den extremen Nimbus des Verbotenen und Illegalen, so wie beim Gebrauch gesetzlich verbotener Substanzen heute.
Alkohol wurde natürlich schon zu allen Zeiten mißbräuchlich verwendet, so auch damals. Für alle Gesellschaftsschichten billig und einfach zu beschaffen, traditionell und kulturell verwurzelt, in tägliche Arbeitsabläufe fest integriert, vermeintlich geeignet um Frust und Probleme für kurze Zeit zu "ersäufen", konnte gerade in schwierigen Zeiten nach verlorenem Krieg, wirtschaftlicher Katastrophe und höchst tragischen Einzelschicksalen schnell eine Abhängigkeit entstehen.

Aber im Gegensatz zu unseren Zeiten galten die heute streng verbotenen, extrem verrufenen und auch gesellschaftlich geächteten "harten" Drogen (ein Begriff unserer Tage) als nichts Negatives. Im Gegenteil, zur damaligen Zeit waren Cocain und Morphin bzw. dessen Derivate, darunter Heroin, frei verkäufliche und häufig und teils auch recht unbedarft genutzte, natürlich auch sehr wirksame Arzneimittel gegen Schmerzen, Husten und zahlreiche anderen Krankheiten. Und was der verwöhnte Leser von heute immer bedenken sollte: es standen so gut wie keine Alternativen zur Verfügung. In Zeiten, in denen die pharmazeutische Industrie erst anfing, ihrer Kinderschuhe zu entwachsen und die Forschung erste richtige Fortschritte machte, wurden in Apotheken immer noch Quecksilberpräzipitatsalben und andere "Spezialitäten" hergestellt und verkauft. Es gab keine hochentwickelten Arzneimittel oder Diagnosemöglichkeiten gegen die heute bekannten Erkrankungen, geschweige denn Antibiotika. Ärzte und Apothekier mussten sich viel auf Ihre Erfahrungen und Intuition verlassen. Tees und altbewährte Zubereitungen mussten genügen. Die von uns heute verteufelten Stoffe erschienen damals wie eine Gottesgabe - man denke nur an die Behandlung starker und stärkster schmerzzustände mit Morphin - und sind es auch noch heute, wenn man berücksichtigt, daß sehr viele unserer heutigen Arzneimittel auf den veränderten chemischen Grundstrukturen dieser Stoffe basieren. Und beim Thema Anwendung, Vermarktung oder gar Patientenschutz war man darmals alles andere als zimperlich.

Bayer Heroin bottle
Heroin - Original-Verpackung der Fa. Bayer

Heroin (eigentlich Diacetylmorphin - "Heroin", nach dem griechischen Heros, ἥρως hḗrōs, "der Held" bzw. weiblich Heroine, ἡρωίς hērōís "die Heldin“ benannt, ist der damals patentgeschütze Markenname der Fa. Bayer) wurde von Felix Hoffmann bei der Fa. Bayer in Ebersfeld 26. Juni 1896 erstmals synthetisiert, von Bayer patentiert und danach als Arzneimittel für über vierzig Anwendungsgebiete (darunter als „nicht süchtig machendes Medikament“ gegen die Entzugssymptome von Morphin und Opium, aber auch bei Bluthochdruck, Herz- und Lungernerkrankungen) angepriesen. Die sehr aggressive Vermarktung fand auch dann noch statt, als nach 1904 klar war, daß das Abhängigkeitsrisiko noch größer als das von Morphin war, allerdings durch geringere Einnahmedosen und langsamere Wirkungsanflutung bei oraler Aufnahme als Pulver und Tabletten (im Gegensatz zur intravenösen Anwendung!) und damit ausbleibenden Rauschzuständen öfter ausblieb und somit maskiert wurde. Bayer stellte den Vertrieb erst 1931 ein - es hatte noch weitere Spitzenprodukte in der Pipeline, darunter das 1897 ebenfalls von Felix Hoffmann synthetisierte Aspirin.
Der Verkauf von Diacetylmorphin in Deutschland fand noch bis 1956 statt, das Verbot erfolgte erst am 6. April 1971. Seit 2009 wird es als Ausnahmearzneimittel zur Substitution bei schwerst Drogenabhängigen unter strengsten Auflagen weiter in Deutschland verwendet.

Der Sucht in allen Schichten der Bevölkerung war somit Tür und Tor geöffnet. Erst 1929 wurde durch die Ratifizierung des Internationalen Opiumabkommens von 1912 diese Substanzen im Deutschen Reich zu Suchtstoffen erklärt, mit z.T. erheblichen und schwerwiegenden Konsequenzen für die Abhängigen, denen von einem Tag auf den anderen der Suchtstoff abhanden kam. Es wurden z.B. auch Listen morphinabhängiger Ärzte geführt, denen der Kauf des Suchtmittels in Apotheken untersagt war.